Kaum eine Entwicklung wurde in der Sportwelt in den letzten Jahren so häufig diskutiert wie die voranschreitende Politisierung von Sport. Sportliche Wettkämpfe und Resultate rücken teilweise in den Hintergrund. Stattdessen debattieren wir über knieende Football-Spieler, gekaufte Weltmeisterschaften, Regenbogenbinden und Fotos mit Präsidenten anderer Länder.
Viele sehnen sich danach, endlich mal wieder in Ruhe in einem ausverkauften Stadion ein Fußballspiel zu schauen, ohne sich sofort über die großen gesellschaftlichen Fragen und Probleme unserer Zeit den Kopf zu zerbrechen. Oft hat man hat das Gefühl, dem Sport wird seine Unschuld und seine Purität genommen, er wird zum reinen Spielball von Medien, Kommerz und Politik.
Zumindest an einem Punkt unterliegen wir allerdings einer fundamentalen Fehleinschätzung: Sport wird nicht plötzlich zum ersten Mal in seiner Geschichte politisiert oder instrumentalisiert. Sport war schon immer politisch und eine Plattform gesellschaftlicher und politischer Repräsentation.
Woher kommt eigentlich dieses Stereotyp des unpolitischen Sports? Warum sollte Sport überhaupt unpolitisch sein? Die zweite Frage lässt sich etwas einfacher beantworten als die Erste. Ihr liegt das Narrativ zugrunde, Politisierung von Sport sei etwas Schlechtes. Wir sollten also die Politik vom Sport fernhalten.
Und tatsächlich bietet uns die Geschichte genug entsprechende Beispiele, die dieses Narrativ untermauern. Die Olympischen Spiele 1936 in Berlin zum Beispiel. Ein perfekter Ansatzpunkt, um zu argumentieren: „seht ihr, Sport sollte einfach unpolitisch bleiben. Sonst kommt sowas bei raus.“
Was es zu hinterfragen gilt...
Aber wollen wir das wirklich? Wir, die Gesellschaft? Und ist es immer nur die Politik selbst, die sich in den Sport einmischt? Das Wunder von Bern ist das perfekte Gegenbeispiel. Nicht umsonst spricht man auch von der „eigentlichen Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland“.
Die Wiederetablierung eines kollektiven Wir-Gefühls, aus der Gesellschaft heraus und nicht „von oben“ auferlegt. Aber auch das ist Politisierung. Auch wenn sie nicht nur aus der Politik heraus erfolgt, sondern eben aus der Gesellschaft selbst.
Aber könnten wir nicht trotzdem versuchen Sport und Politik (wieder) mehr zu trennen? Denn das sind jetzt zwar zwei großartige Beispiele für eine Symbiose von Sport und Politik, aber ganz ursprünglich war das doch bestimmt anders, da war der Sport noch einfach nur Sport und komplett unpolitisch! Nicht wirklich.
Unserem westlichen Verständnis entsprechend können wir die Ursprünge des modernen Sports bis ins antike Griechenland zurückverfolgen. Natürlich gab es auch in anderen Zivilisationen auf anderen Kontinenten Spiele und Wettkämpfe, ihr Einfluss auf unser heutiges Verständnis von Sport ist aber eher marginal.
Startpunkt Olympia
Sport und antikes Griechenland: das verbinden wir vor allem mit den Olympischen Spielen. Die Olympischen Spiele waren Teil der Panhellenischen Spiele, eine Wettbewerbsreihe mit unterschiedlichen Austragungsorten – den jeweiligen kulturellen Zentren des Antiken Griechenlands – und zu Ehren verschiedener Gottheiten.
Vor, während und nach den Wettkämpfen herrschte in ganz Griechenland eine Art Waffenstillstand – Ekecheiria – um eine sichere Durchführung der Wettkämpfe inklusive An- und Abreise zu gewährleisten. Heutzutage leiten wir davon das Prinzip des Olympischen Friedens ab.
Kein sonderlich unpolitischer Start also…
Das antike Rom: „panem et circenses“
Der zweite große kulturelle Meilenstein unserer Sportgeschichte befindet sich ebenfalls in der Antike, ein paar Jahre und Seemeilen weiter. Die antiken Römer perfektionierten bereits vor über 2.000 Jahre eine der Grundideen der modernen Unterhaltungsbranche: Belustigung und Ablenkung der Gesellschaft von zentralen Problemen durch „globale“ Megaevents.
Die martialische Tödlichkeit mancher Wettkämpfe hat sich zum Glück nicht bis heute gehalten, die Terminologie „panem et circenses“ – Brot und Spiele – allerdings schon, genauso wie die Instrumentalisierung des Sports seitens der Regierenden zur Befriedigung und Ruhigstellung des Volkes.
Karl Marx sagte einst, Religion sei das Opium der Massen. Dann wäre Sport mindestens ein starker Gin Tonic.
Allerdings ist Religion tatsächlich eine passende Überleitung in die nächsten Jahrhunderte. Denn bis ins 19. Jahrhundert verschwand das Konzept Sport bzw. sportliche Wettkämpfe fast komplett von der Bildfläche. Es gab zwar verschiedenste Wettkämpfe – z.B. die Tjost – aber die wenigsten haben sich nachhaltig institutionalisiert, darunter Bogenschießen und der sogenannte „Calcio Storico“ in Florenz.
Ein plausibler Erklärungsgrund: Ständegesellschaft, also fehlende bürgerliche Freiheiten und Zeit zum Sporttreiben, sowie die omnipräsente Rolle von Religion, um Land und Gesellschaft zu kontrollieren.
Die Renaissance des Sports in England
Somit ist es wenig überraschend, dass Sport im 19. Jahrhundert wieder vermehrt ins gesellschaftliche Leben zurückkehrt, zeitgleich mit dem Ausbruch aus Ständegesellschaft und Absolutismus: eine verspätete Renaissance des Sports auf Basis politischen und gesellschaftlichen Wandels sozusagen.
Wo welcher Sport getrieben wurde, war natürlich auch – ihr ahnt es schon – völlig unpolitisch. Deswegen ist es auch reiner Zufall, dass der typische Arbeiter- und Massensport der Neuzeit (Fußball) zuerst im Land der Industrialisierung (England) Fuß gefasst hat.
Sport ist (Wett)kampf
Aber im Ernst: Seine Ausbreitung nach Deutschland und eine steigende Toleranz unter politischen Autoritäten hatte am Ende sehr viel mit seiner Nützlichkeit für die Umsetzung gemeinsamer Leibesübungen zu tun.
Damals noch weniger „Jugend trainiert für Olympia“ als vielmehr „Jugend trainiert für Kriegsspiele“. Zu weit hergeholt? Man vergegenwärtige sich einfach mal die Terminologien im Fußball: Angriff, Verteidigung, Taktik, Flanke, schießen, stürmen, Schlachtenbummler, etc.. Noch Fragen?
Nachdem sich Sport über Kontinente hinweg in den jeweiligen Gesellschaften etabliert hatte, wurde er um die Jahrhundertwende institutionalisiert. Die beiden prominentesten Erzeugnisse: FIFA der internationale Fußballverband und natürlich das IOC, das internationale olympische Komitee, heutzutage so etwas wie der weltweite Dachverband des Sports.
Während es bei der FIFA noch bis 1930 zur ersten Weltmeisterschaft dauerte, trug das IOC bereits 1896 die ersten olympischen Spiele der Moderne in Athen aus und sah sich 1912 in Stockholm auch schon dem ersten politischen Affront ausgesetzt.
Schon damals zogen die Mannschaften zu Beginn unter ihrer jeweiligen Landesflagge ins Olympiastadion ein. Für die Finnen – damals zum russischen Zarenreich gehörend – Anlass für eine kleine Protestaktion: Direkt nach Betreten des Stadions ließ man sich einige Meter vom Rest der russischen Mannschaft zurückfallen, aus dem Publikum wurde eine finnische Fahne gereicht und man marschierte „unabhängig“ unter eigener Flagge am schwedischen König vorbei. Der russische Botschafter war wenig begeistert.
24 Jahre später sind wir bereits an einem ersten Höhepunkt der politischen Instrumentalisierung von Sport – und am Beginn erster Entpolitisierungsversuche. Wahrscheinlich gibt es kaum ein besseres und traurigeres Beispiel für die politische Instrumentalisierung einer Sportveranstaltung, als die bereits erwähnten olympischen Spiele von 1936 in Berlin.
Die Propaganda-Maschinerie des NS-Staats lief auf Hochtouren, nie zuvor waren Olympische Spiele besser organisiert und ein Land besser präsentiert gewesen. Der polnische Botschafter in Berlin, Jozef Lipski kommentierte: „Wir müssen auf der Hut sein vor einem Volk, das so zu organisieren versteht. Eine Mobilmachung in diesem Land wird genauso reibungslos funktionieren.“
Wovon die gesamte Weltöffentlichkeit, die diese Spiele in Berlin genauso die Augen verschloss wie die deutsche Zivilbevölkerung: 30 Kilometer vor den Toren der Stadt wurde zeitgleich zu den Spielen mit dem Bau des KZ Sachsenhausen begonnen. Prominentester „Versteher“ des NS-Regimes: Avery Brundage, größter Boykottgegner innerhalb der amerikanischen Delegation, Antisemit und späterer IOC-Präsident. Er wird uns für ein paar Jahrzehnte begleiten, als Person und beispielhafter Entpolitisierer.
Sein wichtigster Agendapunkt: Sport ist Sport, Politik und Kommerz haben hier nichts zu suchen. Das verdeutlicht in erster Linie sein Umgang mit den nächsten Zwischenfällen. Der Bau der Berliner Mauer war für Brundage selbstverständlich erst einmal kein Grund zwei deutsche Teams bei Olympischen Spielen zuzulassen, 1964 vertrat noch eine gesamtdeutsche Mannschaft die BRD und die DDR in Tokio.
Vier Jahre später entstand eines der bekanntesten Bilder der Sportgeschichte. Tommie Smith und John Carlos erheben während der Siegerehrung des 200-Meterlaufs die Faust als Protest gegen die fortlaufende Unterdrückung von Afroamerikanern in den USA und gegen das Attentat auf Martin Luther King. Avery Brundage bezeichnet das Geschehen als „üble Demonstration gegen die amerikanische Flagge durch Neger“ und übt Druck auf das Amerikanische NOK aus. Die Folge: Smith und Carlos verlassen am nächsten Tag das olympische Dorf und werden die USA nie wieder bei einem Wettkampf repräsentieren.
Wiederum vier Jahre danach sterben elf israelische Geiseln beim Münchner Olympia-Attentat. Erst nach Protesten von Teilnehmern und Zuschauern werden die Spiele kurzzeitig unterbrochen, aber – wie Brundage kommentierte – „the Games must go on!“ Der Sport beugt sich weder Politik und Gesellschaft noch dem Terrorismus.
Trotz Persönlichkeiten wie Brundage, die manchmal aus redlichen und manchmal aus weniger anständigen Beweggründen eine Entpolitisierung von Sport vorantrieben, blieb Sport immer politisch. Die nächsten drei Olympischen Spiele in Montreal, Moskau und Los Angeles gehen in die Geschichtsbücher als große Boykottspiele ein.
Erst wird Südafrika als Apartheid-Staat ausgeschlossen, dann erreicht der Kalte Krieg endgültig den Sport, Ost und West boykottieren die Spiele des jeweils anderen. In der Zwischenzeit stellt die argentinische Militärjunta sicher, dass Diego Armando Maradona nicht an der WM 1978 teilnimmt (nicht regimegetreu genug) und Argentinien unter allen Umständen das Finale erreicht, koste es (an Getreide) was es wolle.
1994 wird der Kolumbianer Andres Escobar nach einem Eigentor erschossen, 2012 politische Gegner der ägyptischen Regierung in Port Said nach Abpfiff eines Fußballspiels gezielt angegriffen und umgebracht. In der Zwischenzeit erlangen wir durch das Sommermärchen unseren Nationalstolz zurück. Allerdings sollen doch bitte alle deutschen Spieler brav die Hymne singen. Und sich auch nur mit unseren Politikern ablichten lassen. Oben ohne, in der Kabine. Das kommt eh viel besser und integrativer als mir Hemd und Pullunder neben einem Autokraten.
Die eigentliche Frage sollte also nicht lauten „soll Sport politisch sein“, denn unabhängig von unseren persönlichen Präferenzen müssen wir uns wohl einfach eingestehen, dass wir den Sport nie komplett entpolitisieren können. Stattdessen müssen wir uns fragen „wie sollte Sport politisiert werden“. Welche Akteure, welche Themen und auf welche Art und Weise? Die Antworten auf diese Frage sind höchstwahrscheinlich genauso pluralistisch und divers wie unsere Gesellschaft.
Aber die Flucht in eine unterkomplexe Illusion der Sportwelt ohne Politik und gesellschaftliche Verantwortung ist weder zeitgemäß noch der Weg von B42. Stattdessen verstehen wir uns als einer von vielen Akteuren im Sport mit einer gesellschaftlichen Verantwortung.
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